Sebastian, du berichtest von einem Fall in einer Schule. Was war da los?
Ich wurde damit beauftragt, für eine Berliner Grundschule eine Konferenz zu moderieren. Da ging es um die Frage, wie mit den vorhandenen Räumlichkeiten umgegangen werden soll. Die Schulleitung dort hat sich mit einer Entscheidung schwer getan, weil in der Schule einige Gruppen Vorbehalte gegenüber den neuen Räumen hatten, die der Grundschule vor einigen Jahren zur Verfügung gestellt wurden. Gleichzeitig standen Sachzwänge im Hintergrund: Vor dem Hintergrund der Raumnot in den Berliner Schulen durften die zur Verfügung stehenden Räume nicht ungenutzt bleiben.
Im Vorfeld der Entscheidung wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, die zwar eine Vielzahl von Konzepten erarbeitet hatte, auf die sich das Lehrer:innen-Kollegium und die Erzieher:innen jedoch nicht einigen konnte. Zu groß waren die Unterschiede in den Interessen, zu festgefahren die Standpunkte.
Das klingt, als könne es nur Verlierer geben.
Ja, das schien zunächst auch so. Im Zweifelsfall wäre es zu einer Entscheidung von oben gekommen: Die Schulleitung hätte sich für eine Position entschieden, sie durchgesetzt, und alle anderen hätten das Nachsehen gehabt. Am Ende hätte sich die Schulleitung unbeliebt gemacht und das Vertrauen der Kolleg:innen verloren.
Konntest du die Situation auflösen?
So einfach war das nicht. Zuerst musste ich mich entscheiden: Will ich aus fachlicher Sicht agieren? Oder halte ich mich mit meinem fachlichen Standpunkt zurück? Hätte ich aus fachlicher Sicht beraten, wäre die Gefahr hoch gewesen, sich auf eine Seite der Konflikte zu schlagen. Mir war stattdessen wichtig, meine Rolle als neutrale, außenstehende Prozessbegleitung zu spielen. Deswegen war nach der Auftragsklärung klar: Ich werde die Moderation der Versammlung übernehmen, ohne dass ich mich fachlich dazu äußere.
Schritt 1: In der Auftragsklärung zwischen Fach- und Prozessberatung entscheiden.
Um das Bild, das sich aus der Aktenlage im Schulleitungsbüro ergab, durch eigene Eindrücke zu ergänzen, ließ ich mir daher die betreffenden Räume zeigen. Ich wollte mit denjenigen Personen ins Gespräch kommen, die der Raumnutzung skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Sie zeigten mir die Räume und wir sprachen über ihre Argumente und darüber, was denn passieren müsste, damit eine für sie akzeptable Lösung gefunden werden kann. Dadurch wuchs das Vertrauen in mich als Moderator.
Schritt 2: Kräftefeld erkunden. Wer verfolgt welche Interesssen? Welche Argumente liegen vor?
Als der Tag der Schulversammlung gekommen war, legten wir zunächst Leitplanken für die gemeinsame Arbeit fest. Neben den Basics guter Gesprächskultur gehörte dazu, alle relevanten Meinungen und Erfahrungen konstruktiv einzubringen. Und um den Erwartungshorizont abzustecken, sollten sich alle Beteiligten klar machen, dass es keine Entscheidung geben wird, die alle zufrieden stellt.
Dann ging es mit der Arbeit in Kleingruppen los: Sie sollten zunächst alle Argumente und Positionen sammeln, damit die gemeinsame Ausgangslage klar ist. Dann sollten sie sich überlegen, unter welchen Bedingungen für sie eine Lösung tragbar wäre; und zu guter Letzt sollten Hindernisse auf dem Weg zur Entscheidung benannt werden.
Schritt 3: Wertschätzend mit Differenzen umgehen, Meinungsverschiedenheiten sichtbar machen. Alle Positionen müssen auf den Tisch!
Im nächsten Schritt ging es darum, sich mit den Vorarbeiten auseinanderzusetzen: In Kleingruppen sollten die Varianten, die im Vorfeld von der Arbeitsgruppe ausgearbeitet wurden, ergänzt werden. So sorgte ich einerseits dafür, dass die bereits erarbeiteten Konzepte von allen zur Kenntnis genommen wurden; andererseits ermöglichte ich den Skeptiker:innen, ihre Positionen zu artikulieren und ihre Kritik einzubringen.
Schritt 4: Gelegenheit geben, sich mit den Entscheidungsalternativen auseinanderzusetzen. Eigene Vorschläge und Ideen beisteuern!
Was kam dann am Ende heraus?
Nachdem die Vorarbeiten der Arbeitsgruppe durch die Schulversammlung ergänzt worden sind, wurden die Entscheidungsalternativen zur Abstimmung gestellt. Es war im Vorhinein klar, dass es keine für alle zufriedenstellende Lösung gibt. Aber es musste eine Entscheidung getroffen werden – und die sollte möglichst wenig „Bauchschmerzen“ verursachen. Deswegen wurde die Entscheidung nicht nach dem Mehrheitsprinzip getroffen. Bei Mehrheitsentscheidungen bügelt immer eine Mehrheit die Interessen einer Minderheiten ab.
Schritt 5: Modus der Entscheidungsfindung finden. Mehrheitsentscheid, Konsensentscheid oder etwas dazwischen?
Deswegen haben wir nach dem Prinzip „Systemisches Konsensieren“ gearbeitet: Hier wird das Abstimmungsprinzip des Mehrheitsentscheides umgekehrt. Für jede Entscheidungsmöglichkeit wird gesammelt, wie viel Widerstand sie bei den Entscheidungsträger:innen hervorruft. Die Variante, die den geringsten Widerstand erzeugt, gewinnt.
Damit wurde offengelegt, dass hier keine einfache Lösung umzusetzen ist, sondern dass sich die Lehrkräfte und Fachkräfte in einer widersprüchlichen und ambivalenten Situation befinden – und trotzdem eine Entscheidung zu treffen ist! Am Ende hatte das gesamte Kollegium das Gefühl, im gleichen Boot zu sitzen. Sie hatten es geschafft, auch eine unbeliebte Entscheidung zu treffen, ohne dass Einzelmeinungen übergangen werden.